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Regine Beyß

Konstruktives Nichttun

Donnerstag 7. November 2013

Demonstrationen kränkeln an Mobilisierung und ausbleibenden Erfolgen. Doch der Protest könnte mehr anbieten: Die Gelegenheit, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.

Vielleicht hätte ich eine Strichliste führen sollen. Dann könnte ich jetzt aufzählen, wie viele Demonstrationen ich seit dem 15. Oktober 2011, dem ersten globalen Aktionstag der Bewegung für echte Demokratie, besucht oder mitorganisiert habe. Da kämen schon ein paar Striche zusammen… und nein, das sage ich nicht, um mich damit zu brüsten. Im Gegenteil.

Vielmehr bringt es mich ins Grübeln. Schließlich muss ich mir zu Recht vorhalten lassen, dass sich dieses Engagement bisher nicht ausgezahlt hat. Die Welt hat sich nicht wesentlich geändert. Ich bin gegen die deutsche Asylpolitik, gegen den Kapitalismus, gegen die EU-Krisenpolitik und gegen Nazis auf die Straße gegangen. Doch sie sind alle noch da – und interessieren sich herzlich wenig für junge und idealistische Aktivisten wie mich, die gegen sie mobil machen wollen.

Gretchenfrage: Mobilisierung

Das klappt mitunter auch mehr schlecht als recht. Seit dem erwähnten weltweiten Aktionstag wurde es immer schwieriger, die Menschen für Demonstrationen zu motivieren. Die Mobilisierung ist bei vielen Gruppen inzwischen zur Gretchenfrage geworden – zumindest in Deutschland. Bei unserer letzten Demo in Dortmund zum EU-Gipfel am 13. März konnten wir knapp 50 Menschen in der Innenstadt versammeln. Und die meisten davon waren bekannte Gesichter. Den gemeinen Bewohner des Ruhrgebiets haben wir (mal wieder) nicht erreicht.

Über die Gründe lässt sich wunderbar spekulieren: Geht es uns hierzulande zu gut? Mangelt es an Informationen? Sind die Menschen schlichtweg überfordert und mit ihren eigenen Problemen bereits ausgelastet? Oder glauben sie inzwischen auch an die viel gepredigte "Alternativlosigkeit"?

Wahrscheinlich liegt die Antwort wie so oft in einer Kombination dieser Gründe. Eins aber ist klar: Demos sind nicht die Lösung. Spätestens, als unsere kleine Gruppe am 13. März über den Dortmunder Wall marschierte und bei Minusgraden die Parteibüros der Parteien abklapperte, war offensichtlich, dass wir andere Wege gehen müssen – im wahrsten Sinne des Wortes. Dieses Eingeständnis ist unbequem, aber nötig. Eine Demo war bisher die einfachste Antwort auf die Frage: Was machen wir? Doch nun brauchen wir andere Antworten – und dafür bedarf es mehr Kreativität, mehr Mut und wahrscheinlich auch mehr Einsatz.

Gewaltfreier Lesestoff

Mal wieder war es ein Buch, das mir half, diese Antworten zu finden. Es ist eine Sache, sich zu empören, sich zu engagieren und aktiv zu werden. Aber es ist eine andere, sich darüber bewusst zu werden, in welchem Rahmen, mit welchem Konzept und welchen Zielen man das tut. Ähnlich erging es mir bereits, als ich mich mit dem Thema Anarchismus auseinander gesetzt habe (siehe Blog-Artikel "Keine Angst vor Anarchismus", 29. Oktober 2012). Und nun hat mir das Konzept der Gewaltfreien Aktion wieder eine solche Möglichkeit eröffnet.

Anmerkung: Im Folgenden nehme ich Bezug auf das Buch „Gewaltfreie Aktion – Erfahrungen und Analysen“ von Reiner Steinweg und Ulrike Laubenthal (Hrsg.). Frankfurt am Main, 2011.

Gewaltfreie Aktionen sind nicht nur eine Alternative zu Demonstrationen, sie sind inzwischen unabdingbar, wenn man das System tatsächlich verändern will. Wir sind an einem Punkt, an dem es bei weitem nicht mehr ausreicht, Forderungen an Politiker zu stellen und dafür auf die Straße zu gehen. Die repräsentative Demokratie funktioniert augenscheinlich nicht mehr – vor allem im Zuge der Krise des Kapitalismus.

Alle Macht dem Volke?

Politik und Wirtschaft dienen nicht mehr dem Gemeinwohl, sondern den Interessen einer kleinen Elite. Der Wille des Volkes, bei dem eigentlich alle Macht liegen sollte, spielt keine Rolle mehr. Das gilt nicht nur für Länder wie Griechenland, Spanien und Italien. Auch in Deutschland handeln die Regierungen nicht im Sinne der Bevölkerung. Als Beispiele seien hier nur die Waffenexporte an Saudi-Arabien, der Afghanistan-Krieg, die Hartz IV-Gesetze oder das Betreuungsgeld genannt.

"[Zur gewaltfreien (direkten) Aktion] greifen Kontrahenten in Situationen, in denen es schwierig oder fast aussichtslos scheint, durch demokratische Verfahren einen Konsens über Gerechtigkeit und die dafür erforderlichen Wandlungen herzustellen." (Theodor Ebert)
Es wäre falsch, angesichts der ausbleibenden Erfolge der Protestbewegungen auf Gewalt zu setzen. Damit würden nicht nur alle möglichen Alternativen verneint und mitunter verheerende Folgen in Kauf genommen, sondern auch ein aussichtsloser Kampf angetreten:

"Gewaltfreiheit greift den staatlichen Gegner nicht dort an, wo er am stärksten ist: beim Monopol der Gewalt. Sondern dort, wo er am schwächsten ist: bei der Legitimation seiner kriegerischen Aktivitäten." (Renate Wanie)

"Das der Industriegesellschaft angepasste Äquivalent zum bewaffneten Kampf oppositioneller Kräfte ist der zivile Ungehorsam. Charakteristisch für diesen ist, dass bei der öffentlichen Übertretung von Gesetzen die Akteure sich auf übergeordnetes positives Recht oder auch das Naturrecht oder die Freiheit des Gewissens berufen." (Theodor Ebert)

Eigene Verantwortung

Aktivisten, die an einer gewaltfreien Aktion teilnehmen, reagieren auf ein Unrecht. Dieses Unrecht steht im Mittelpunkt der Aktion – und nicht die Kritik derer, die für den Missstand verantwortlich sind. Vielmehr wird eine Verbindung hergestellt zum eigenen Verhalten bzw. der eigenen Verantwortung:

"Im Unterschied zum gewaltsamen Widerstand ist gewaltfreier Widerstand die Äußerung von geistiger, psychischer, moralischer Kraft. Diese Stärke erweist sich vor allem im sehr bewussten, spezifischen Nichttun dessen, was als Teilhabe am Unrecht genannt werden könnte (im Unterschied zum allgemeinen Nichtstun)." (Egbert Jahn)
Auf der einen Seite geht es darum, mit Argumenten zu überzeugen: Wenn ich ein Gesetz breche, weil ich mir meiner Mitverantwortung bewusst bin und deswegen eine Gewissensentscheidung treffen muss, konfrontiere ich meinen politischen Gegner mit seiner eigenen Verantwortung, anstatt ihn aggressiv anzugreifen und zu kritisieren. Er muss Stellung beziehen. Wenn er sich hingegen physisch gegen mich verteidigen müsste, würde er sich im Recht sehen.

Auf der anderen Seite kann ich zumindest darauf hoffen, dass meine eigene Gewaltfreiheit dazu führt, dass auch der Gegner keine oder wenig Gewalt anwendet. Natürlich gibt es dafür keine Garantie – und leider auch genug Gegenbeweise. Dennoch gebe ich zumindest keine zusätzliche Legitimation für Unterdrückungsmaßnahmen und kann mich – wie bei den Blockupy-Protesten in Frankfurt – darauf berufen: "Wir sind friedlich. Was seid ihr?" Das wiederum kann Sympathien wecken bei den vielen Menschen, die sich noch nicht aktiv an den Protesten beteiligen.

Auch wenn die Aktionen häufig davon abhängen, dass eine gewisse Zahl von Personen zusammenarbeitet und gemeinsamen Absprachen folgt, entscheide ich zu jeder Zeit selbst, ob ich mich beteilige. Es sind "personale Aktionen", das heißt jeder Akteur folgt seinen eigenen Überzeugungen und steht für sich als identifizierbare, zivile Person.

Parallelstrukturen aufbauen

Ein weiteres fundamentales Merkmal der gewaltfreien Aktionen ist der darin inbegriffene Aufbau von neuen Strukturen. Sie geben sich nicht mit bloßer Kritik und dem öffentlichen Pranger zufrieden, sondern machen bei ihrer Durchführung schon die angestrebten Alternativen deutlich. Im Idealfall sollen sozialkritische Parallelinstitutionen aufgebaut werden, die das System, das boykottiert wird, ersetzen können. Die Aktivisten nehmen dabei neue Rollen ein, die ihnen das bisherige System nicht zugesteht:

Beispiele dafür sind: Go-in, Sit-in, Massensitzstreik auf den Straßen, Instandsetzung leer stehender Wohnungen, die Besetzung von Industrieanlagen, das Besetzen und Umfunktionieren von komplexen gesellschaftlichen Institutionen wie Universitäten, von landwirtschaft - lichen Flächen und Betrieben, von Truppenübungsplätzen oder den Transportwegen und Lagerstätten für radioaktiven Abfall

Gandhi nannte diese Etablierung von parallelen Strukturen ein "konstruktives Programm". Und ein solches ist zweifelsohne nötig, wenn eine Revolution gelingen soll. Die unauffällige Entwicklung dieser zivilgesellschaftlichen Institutionen im Vorfeld von gewaltfreien Aufständen verhindert, dass im Anschluss daran nur Führungsgestalten ausgetauscht werden, ohne dass es zu einer wirklichen "Graswurzelrevolution" kommt.
Womit wir wieder beim allbekannten Problem wären: die Mobilisierung der Massen.

"Politisch kommt es meines Erachtens darauf an, möglichst vielen Menschen kritische Inhalte näher zu bringen und sie zu ermuntern, sich zu wehren. Radikalität besteht nicht darin, unter Gleichgesinnten Bekenntnisse zur Notwendigkeit von Revolution auszutauschen. Der Wandel der Gesellschaft kann nicht ohne Änderungen im Bewusstsein der ’Normalbürger’ und ohne ihre Mitwirkung erfolgen. […]
Die gewaltfreie Bewegung wendet sich auch und gerade an Menschen, die für die bestehende Gesellschaft typisch sind, an die Vielen, die unter den Verhältnissen leiden, die sich aber (noch) nicht bewusst sind, wie ihr Leid zustande kommt, wer davon profitiert und vor allem, dass ihr eigenen Verhalten (mitmachen statt widerstehen) dazu beiträgt, dieses gewalthaltige System aufrecht zu erhalten."
(Wolfgang Hertle)

Selbstorganisation ist der Schlüssel

Wir müssen uns also überlegen, welche Aktionsformen und vor allem welche Vorbereitung wir benötigen, um gewaltfreie Aktionen erfolgreich durchzuführen und sie dafür zu nutzen, langfristig parallele Strukturen aufzubauen. Wie auch bei den Demonstrationen geht es darum, möglichst viele Menschen zu erreichen. Doch nun können wir ihnen mehr bieten als das gute Gewissen, auf der Straße gewesen zu sein und ihrem Ärger Luft gemacht zu haben. Stattdessen gibt es Möglichkeiten, selbst aktiv zu werden, etwas zu ändern, eigenständige Entscheidungen zu treffen.

Der Protest der Flüchtlinge in Deutschland ist dafür ein gutes Beispiel: Sie brechen Gesetze wie die Residenzpflicht, um auf die Situation in den Lagern aufmerksam zu machen. Gleichzeitig schaffen sie Strukturen, in denen sie ihren Protest und ihr Leben selbst organisieren.

Anmerkung: Andere viel versprechende Formen des zivilen Ungehorsams in Deutschland hat der Aktivist Yann Döhner in seinem Artikel "Erste stachelige Pflänzchen" beschrieben. Lesenswert!

Genau darauf kommt es an: Selbstorganisation. Die Welt wird sich nicht ändern, wenn wir unsere Verantwortung abgeben und delegieren. Unsere Forderungen werden nicht erhört werden. Wenn wir selbst entscheiden wollen, wie wir gemeinsam leben und wirtschaften, müssen wir dem System soweit wie nur möglich unsere Unterstützung entziehen und selbst aktiv werden.

Wir können das Unrecht nur bekämpfen, indem wir unsere Verantwortung wahrnehmen und daran nicht mehr teilnehmen. Und im Grunde sollte uns diese Entscheidung nicht besonders schwer fallen. Schließlich könnte eine bessere Welt auf uns warten. Eine, in dem wir nicht mehr jedes Wochenende auf die Straße gehen müssen.


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