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„Das könnte langfristig zu einer Basisdemokratisierung des Alltags führen“
Samstag 13. Juli 2013
Markus Wutzler ist Aktionstrainer. Er machte sich für die CONTRASTE Gedanken, wie Selbstorganisation in fremd bestimmten Alltagen aussehen kann und was kleine Gruppen für ihre Alltage aus Aktionstrainings und aus der Bezugsgruppenidee für den täglichen Aufstand lernen können.
Christoph Chang stellte die Fragen.
CONTRASTE: Markus Wutzler, du bist Aktionstrainer bei X-tausendmal quer, einer der großen Kampagnen im Wendland, die bei den Castortransporten die Massenblockaden auf der Straße organisieren.
Markus Wutzler: Das stimmt, ist aber nicht ganz aktuell. Da bei Lüchow und Dannenberg zurzeit keine Castoren rollen, sind die AktionstrainerInnen gerade im neu gegründeten Netzwerk ZUGABe miteinander in Kontakt, was so viel bedeutet, wie Netzwerk Ziviler Ungehorsam, Gewaltfreie Aktion, Bewegung.
Ich möchte dieses Interview nutzen, um gemeinsam mit dir darüber nachzudenken, wie es klappen könnte, Elemente des zivilen Ungehorsams und der gewaltlosen Aktion in den Alltag mitzunehmen. Lass uns darum zunächst einmal die Seite der gewaltlosen Aktion und ihrer Voraussetzungen beleuchten: Wie laufen eure Aktionstrainings ab?
Unabhängig von der geplanten Aktion laufen Aktionstrainings meist ähnlich ab. Dabei finden sich Gruppen zusammen, die sich auf konkrete politische Aktionen vorbereiten. Es geht zuerst darum, dass sich die Gruppe kennenlernt und dass Informationen zur geplanten Aktion gegeben werden: Wie ist ihr Ablauf, ihr Aktionskonsens? Wo sind eventuell die Camps, in denen die AktivistInnen übernachten können und wie sind sie organisiert? Dann schaffen wir mit den Teilnehmenden gemeinsame Grundlagen: Was bedeutet ziviler Ungehorsam für euch? Was bedeutet das im vorliegenden Kontext? Und je nachdem, ob es darum geht, etwas konkret zu verhindern wie einen Naziaufmarsch oder eher eine symbolische Aktion zu machen, brauchen die Gruppen Gelegenheit, sich auf ihr Vorgehen, ihre Rolle und ihren Beitrag zur Aktion zu einigen.
Wenn über solche Erwartungen, Motivationen und Ziele in der Gruppe kein Konsens besteht, gibt es die Gefahr, dass Konflikte die Gruppe während der Aktion handlungsunfähig machen. Die Verständigung im Vorhinein in den Trainings dient aber auch dazu, Erfahrungen auszutauschen, Ängste abzubauen, und so gemeinsam sicherer zu werden. Zusammengefasst besteht also ein Aktionstraining oft aus zwei Ebenen: Zuerst geht es um die Selbstorganisation in einer Gruppe, die Herstellung eines sicheren Rahmens für alle und als zweites um aktionsspezifische Infos und Übungen.
Warum empfehlt ihr den AktivistInnen, sich für Aktionen in Bezugsgruppen zusammenzutun?
Kleine Gruppen dienen der Vorbereitung auf die Aktion, der gegenseitigen Unterstützung während der Aktion, ihrer Nachbereitung und um eventuelle juristische, psychische oder soziale Folgen gemeinsam zu tragen. Sie haben im Wesentlichen zwei Funktionen: Erstens sollen sie für die verschiedenen Phasen einer Aktion ein sicheres Umfeld für jedeN BeteiligteN schaffen und zur gegenseitigen Unterstützung ermutigen. Zweitens ermöglichen sie eine basisdemokratische Selbstorganisation selbst in stressigen Situationen. Die Bezugsgruppe ist hierbei eine erste kleine Ebene eines basisdemokratischen Rates, bei dem SprecherInnen aller Bezugsgruppen zwischen einem SprecherInnen-Rat und ihrer Bezugsgruppe hin und her pendeln. Diese Struktur versetzt sie in die Lage, ein gemeinsames Vorgehen mehrerer Tausend Menschen auszuhandeln.
Bitte erkläre, welche Schritte eine Bezugsgruppe macht, um sich zu gründen und zum Beispiel auf eine Sitzblockade vorzubereiten ...
Der erste Schritt ist natürlich, sich überhaupt zu einer Gruppe zusammenzufinden. Idealerweise kennt man sich schon länger. Zu Beginn geht es darum, Vertrauen zu schaffen, die eigenen und die Grenzen der Anderen kennenzulernen. Außerdem ist wichtig, dass eine Gruppe eine gemeinsame Idee von der bevorstehenden Aktion entwickelt. Etwa: Blockieren oder lieber erst mal am Rand Präsenz zeigen?
Auf welche Situationen bereiten sich Menschen vor, die zu euch ins Training kommen?
Das geht von der allgemeinen Lage – wie ein Naziaufmarsch, den Menschen gemeinsam verhindern möchten – bis zum konkreten einzelnen Schritt – zum Beispiel eine Polizeikette, die wir gemeinsam durchfließen wollen. Wichtig ist, dass sich beim Aktionstraining ein Bild im Kopf entwickelt, wie die Aktion abläuft, und zwar angefangen mit der Abreise am Ausgangsort. Es geht los mit dem Bild von der Gruppe, das durch intensives Kennenlernen entsteht bis dahin, dass sich die Teilnehmenden in möglichen brenzligen Situationen ausprobieren. Szenarien zu antizipieren hilft den Gruppen zum Beispiel, miteinander Konfrontationslevels abzugleichen. Wenn es darum geht, Polizeiketten zu durchfließen, trainieren wir die 5-Fingertaktik, die im Wendland entwickelt wurde. Wir üben, das gesamte Gelände zu nutzen, um die Polizeikette in die Länge zu ziehen und dann auch den Moment, in dem wir sie massenhaft durchfließen. Es geht einerseits darum, sich die Taktik aus der Vogelperspektive vorstellen zu können, aber auch um Haltung. Damit meine ich sowohl eine innere Haltung, anderen als gleichwertigen Menschen zu begegnen, als auch eine Körperhaltung, die ausdrückt: „Ich werde jetzt hier durchgehen, ich habe keine Angst vor eurem Machtspiel, aber werde euch auch nicht angreifen.“ Das Rollenspiel hilft auch, die Sicht und die emotionale Situation der PolizistInnen zu verstehen. Denn je besser man weiß, was bei den anderen abgeht und wie mein Verhalten auf die Situation wirkt, desto erfolgreicher wird die Aktion verlaufen.
Wir haben über das Durchfließen von Polizeiketten gesprochen, über die Gründung der Gruppe, über den basisdemokratischen Rat und ein bisschen über’s Blockieren. Haben die gewaltlosen Widerstandstaktiken eigentlich strukturelle Gemeinsamkeiten? Bestimmte Haltungen oder so?
Ja. Da ist zunächst der Wille, ein politisches Thema aufzugreifen oder Unrecht zu beseitigen, gemeinsam aktiv zu werden und damit Verantwortlichen Paroli zu bieten. Ein weiteres Element ist der Vertrauensaufbau durch eine Begegnung mit dem Gegenüber auf Augenhöhe, in der die Ziele der Aktion verfolgt werden, ohne sich auf ein Feindbild einzulassen. Der Rest ist Strategie – von der Öffentlichkeitsarbeit bis zur Frage „wie komme ich auf die Straße?“
Mag Wompel hat in der März-CONTRASTE über die Occupy-Camps geschrieben: „Wer noch einen Job hatte, kam eventuell nach Feierabend oder am Wochenende – aber kaum auf die Idee, basisdemokratische Erfahrungen oder menschenrechtliche Forderungen in den betrieblichen oder schulischen Alltag zu tragen.“ Gleiches ließe sich bestimmt auch über die gewaltlose Aktion sagen. Wäre denn das Prinzip der Bezugsgruppen auf eine fremdbestimmte Alltagssituation übertragbar?
Meiner Meinung nach ist das Prinzip der Bezugsgruppe in alle Lebensbereiche übertragbar. Letztlich geht es doch nur darum, aufzustehen und gemeinsam aktiv zu werden. Der erste Schritt ist, wir tauschen uns aus, empowern uns selbst und entwickeln Ideen, wie wir konkrete Veränderungen durchsetzen können. Weiter könnte man sich auf schwierige Situationen gemeinsam vorbereiten und die notwendigen Kompetenzen erwerben, beispielsweise Moderationskompetenzen. Man kann sich gegenseitig kollegial beraten, wo man selbst nicht weiter kommt. Und man kann anfangen, bei Teamentscheidungen alle nach ihrer Meinung zu fragen. So eine Praxis könnte dann langfristig zu einer Basisdemokratisierung des Alltags in der betreffenden Organisation führen. Doch auf dem Weg dahin muss man erst einmal das Einzelkämpfertum und die Vereinzelung aufbrechen, die in vielen Bereich existieren.
Bezugsgruppe heißt: Aus der Anonymität heraustreten und in Kontakt kommen. Problematisch könnte es aber im Alltag werden, wenn man sich nur trifft, um sich über die Verhältnisse zu beklagen aber es nicht schafft, eine konkrete Handlungsperspektive daraus zu entwickeln.
Nehmen wir zum Beispiel eine kleine Gruppe von Beschäftigten im Einzelhandel, politische Menschen, die gerne ihre Arbeitsbedingungen verbessern möchten. Sie arbeiten in verschiedenen Schichten und in verschiedenen Filialen. Wie würde eine Übertragung des Bezugsgruppengedankens in ihre Realität aussehen?
Das wäre also eine Gruppe, die sich schon kennt. Vertrauen und Verständnis von den Arbeitsbedingungen sind da. Eine solche Gruppe könnte zum Beispiel ihre Arbeitsverhältnisse, was Urlaub, Überwachung der Beschäftigten und Ähnliches betrifft, vergleichen. Sie könnten sich gegenseitig beraten, was woanders geholfen hat und Infos über mögliche Unterstützungen austauschen – etwa um einen Betriebsrat aufzubauen. Ideen für Konfliktsituationen können im Rollenspiel getestet werden. Und vielleicht kann die Gruppe auch weitere KollegInnen einbinden. Allerdings glaube ich, dass so eine Gruppe nur dann länger zusammenbleiben wird, wenn nicht nur geredet, sondern auch gemeinsam gehandelt wird.
Noch ein Beispiel: Schule. Jugendliche ärgern sich darüber, dass ihre Klasse zur Disziplinierung einen unangekündigten Test schreiben muss. Stellen wir uns vor, diese Klasse hätte geschlossen am letzten SchülerInnen-Streiktag teilgenommen und wäre noch ganz frisch in fünf Bezugsgruppen organisiert ...
Hmm. Hier gäbe es vielleicht auch die Möglichkeit, sich spontan zu widersetzen, sich erst mal zu beratschlagen und herauszufinden, was das Problem ist. Das heißt, sie setzen sich erst mal in fünf Kreise, bilden eine kleine Ratsstruktur und beraten sich. Wenn genügend Solidarität vorhanden ist, könnten alle gemeinsam den Stift verweigern, um dann aus der gestärkten Position heraus ihre Vorstellung von Unterricht mit den Lehrkräften zu verhandeln.
Strukturell sind ja alltägliche Situationen dadurch gekennzeichnet, dass sie sich ständig wiederholen und dadurch ihre Kraft entfalten, während politische Aktionen einmalig sind und symbolische Höhepunkte bestimmter Entwicklungen markieren. Könnte das ein Problem sein?
Eigentlich nicht. Ich sehe eher eine vergleichbare Komplexität wie bei politischen Aktionen, bei denen ja auch eine Vielzahl von AkteurInnen wirkt – Regierung, Unternehmen, Polizei, Medien usw. Die Alltagsverhältnisse sind auch sehr komplex und ebenso von Machtungleichgewichten gekennzeichnet. Vielleicht kommt man mit der alltäglichen Komplexität sogar noch besser klar, weil man quasi täglich üben kann. Auch für den Alltag ist die Haltung wichtig: „Wir können gemeinsam etwas verändern!“ Denn konstruktive Handlungsmöglichkeiten gibt es immer, und lieber kleine Hürden nehmen als vor der großen Wand stehen bleiben.
Vielen Dank für die wertvollen Anregungen.
Dies ist Teil der Artikelserie Sich gegenseitig unterstützen – Herrschaftsverhältnisse aufkündigen, der Zeitschrift Contraste -
Monatszeitschrift für Selbstorganisation
Zum Weitersurfen:
* http://www.netzwerk-zugabe.de/
* Die Blockadefibel mit vielen praktischen Tipps:
https://www.x-tausendmalquer.de/index.php?id=119#c288
* WRI-Handbuch für gewaltfreie Kampagnen:
http://wri-irg.org/node/3855
* http://bezugsgruppenreader.so36.net/